Meu deus do céu

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“Oh mein Gott” höre ich in Brasilien nie, dafür täglich wiederholt “meu deus do céu” als Ausruf des Erstaunens, der Überraschung.

Dieser Ausdruck hallte in meinem Kopf, als ich das erste Mal den Friedhof von Luzerna im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina betrat.
Von weitem gleicht diese Anlage einem farbigen Dorf, welches an einem äusserst stutzigen morro (“Hügel”) angeklebt wurde.

Familien, eingewandert aus Italien, Österreich, Ukraine und der Schweiz errichteten für ihre verstorbenen Mitglieder Totenhäuser, Gruften in allen Farben und Grössen.
Einzelne Grabmonumente würden bei uns als Minihäuser durchgehen.

Vor dem 1. November, an diesem Tag pilgern no Brasil viele Familien auf den Friedhof, werden jeweils viele Grabstellen neu bemalt und mit Plastikblumen, sie werden im Gegensatz zu natürlichen Blumen scheinbar nicht entwendet, dekoriert.

Meine Schwiegermutter verpflichtete letztes Jahr ein Unternehmen, die Grabanlage ihrer Familie zu säubern und zu reinigen.

Letzten Herbst wanderte ich zum Grab meines verstorbenen Schwiegervaters, setze mich hin und liess meine Blicke und Gedanken schweifen.
Das Dorf der Toten bietet einen weiten Blick auf das geschäftige Luzerna, auf den fischreichen Fluss, auf die riesige Fabrik der Familie Lindner.

Philosophierend über Gott und das Leben erinnerte ich mich an die Urnenbestattung meines vor 10 Jahren verstorbenen Vaters.

Mit der Urne im Rucksack wanderten meine Frau und ich auf eine Alp in der Zentralschweiz, wo unser jüngerer Sohn einen Teil seines Zivildiensteinsatzes absolvierte.
Er hatte im Voraus einen Ort mit einem wunderbaren Panoramablick ausfindig gemacht. Sicher hätte diese Aussicht meinem Vater, er war in jüngeren Jahren ein begeisterter Berggänger, gefallen.

Dort übergaben wir seine Asche der Alpenwelt. Ein kurzer böiger Windstoss änderte die Flugrichtung der Asche in meine Richtung, was mich überraschte und berührte.

In Albanien, wo meine Geliebte und ich vor wenigen Jahren auf dem Fahrrad keuchend und schwitzend Teile des Landes erkundeten, fielen mir die winzigen Privatfriedhöfe auf, erkennbar an Plastikblumen in schillernden Farben.
Diese Gräber waren oft an Stellen angelegt, welche Weitsicht ermöglichten.

Eigentlich weiss ich, dass ich mit Wertschätzung nicht zuwarten sollte, bis ich “deus do céu” anrufen muss.

5. Februar 2021

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