Geschenke

G

Unser Kater ist die Verkörperung von Schweizer Präzision.
Pünktlich um 3:33 Uhr morgens stehen wir zwei wieder in der Küche, wo ich in seinen Trinknapf Milch einschenke.

Ich danke meinem kleinen Freund, dass er mir die Engelszeit, welche Kraft und Energie verheissen soll, schenkt.
Meine Muskeln schmerzen nach dem gestrigen Krafttraining, so schlurfe ich wieder ins Bett und bin froh kein Regentropfen zu sein, welcher draussen unsanft und lautstark auf Ziegeln und Beton landet.

Ich lache leise ins Kopfkissen. Gestern erlebte ich das erste Mal, dass ich auf der Terrasse eines Restaurants einen Ausweis zeigen musste, um ein Mineralwasser bestellen zu können.

Weniger komisch ist der bleibende Eindruck der Lektüre “Die Lebenshungrigen” von Roberto Saviano.
Der italienische Journalist und Autor, er lebt wegen Morddrohungen von Seiten der Camorra seit über 10 Jahren unter Polizeischutz im Untergrund, schreibt über die Paranza, ein Clan von Jugendlichen in Neapel.

Ziel der Paranza ist es schnell und mit möglichst wenig Aufwand reich und berühmt zu werden.
Vorbilder finden die Jugendlichen in den Mafia-Clans, welche mit Drogenhandel Geld scheffeln.
Der Konkurrenzkampf ist mörderisch und skrupellos, Geschenke werden keine gemacht.

Roberto Saviano schreibt über Jugendliche, welchen ein Leben ausserhalb ihres Clans öde und nicht erstrebenswert erscheint.
Die Bande zum Clan werden zunehmend stärker als die zur eigenen Familie, in welchen oft der Vater nicht präsent ist und die Mütter mit Beruf und Erziehung überfordert sind.

Die Lektüre endet wenig optimistisch.
Auf Grund der fehlenden Aussicht auf eine berufliche Perspektive und dem Mangel an positiven Vorbildern im Umfeld vieler Jugendlichen haben die kriminellen Clans keine Nachwuchssorgen.
Ganz im Gegenteil.

Bei dieser Lektüre ziehe ich immer Vergleiche zu meinem privilegierten Leben.

Nicht selbstverständlich waren die Fürsorge meiner Eltern und die Möglichkeit einen Beruf erlernen und ausüben zu können, den ich liebte, mich im Privatleben geborgen und getragen fühlen zu dürfen.
Auch durfte ich von der Struktur und Stabilität meines Heimatlandes profitieren.

Ich fühle mich reich beschenkt und bin dankbar.

Gestern Abend radelte ich nach dem Training an einem Alterszentrum vorbei.
Auf einem Balkon des zweiten Stocks beobachtete eine Bewohnerin den rollenden Verkehr. Überrascht nahm sie meinen Handgruss und mein Lächeln wahr.
Strahlend winkte sie eifrig zurück.

Der herrliche Sommerabend schenkte diesem Augenblick einen würdigen Rahmen.

5. Juni 2021



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