Ablenken

A

Nach dem Yoga unter dem grossen Baum kauern wir bei 12 Grad Wassertemperatur in der Birs und machen gute Miene zum kühlen Spiel.

Ein Entenweibchen nähert sich mir zutraulich, lächelt den riesigen schnabellosen Erpel erst an, findet ihn schnell nicht mehr passabel, taucht den Kopf im Wasser unter und streckt ihm den Po entgegen.

“Boléro” von Maurice Ravel summend trotze ich dem kühlenden Nass.
An meinem Geburtstag hörte ich morgens dieses Musikstück, war wieder fasziniert und bekam die Melodie nicht mehr aus dem Ohr und dem Herzen.

Ich liebe den Aufbau dieses Orchesterstücks, welches zwischen 14 – 17 Minuten dauert, abhängig davon, mit welcher Geschwindigkeit gespielt wird.
Mir gefällt die Idee des Spielens mit Vorgegebenem.

Dieses Musikstück hatte 1928, als es das erste Mal gespielt wurde, riesigen Erfolg und war zugleich umstritten.
Allen recht getan ist eine Kunst, die auch ich nicht kann.

Ravel wurde vorgehalten, dass sein Orchesterstück eintönig sei, da bloss ein Rhythmus und zwei Melodien zu hören sind. 169 Wiederholungen spielt beispielsweise die kleine Trommel.
Mir gefällt dieser klare und vordergründig einfache Rahmen.
Selber bin ich froh über die Beständigkeit von Wiederholungen, welche meinem Alltag Struktur und auch Ruhe schenken.

Maurice Ravel verstand scheinbar selber nicht, warum gerade “Boléro” sein erfolgreichstes Werk wurde.
Mehr als einmal betonte er, dass dieses Werk gar keine Musik enthalte!

Was macht ein Leben reich? Eine allgemein überzeugende Antwort wage ich nicht zu formulieren. Mein Dasein schätze ich ungemein.

Ungewohnt, neu war der Ansatz der Komposition von “Boléro”.
Maurice Ravel benötigte Überzeugung, Hartnäckigkeit und Mut, sein Werk zur Aufführung zu bringen. Er wurde vereinzelt als verrückt abgestempelt.
Die genannten Tugenden schätze ich sehr.

Zurückhaltend und leise beginnt “Boléro”.
Ich liess mir Zeit aus dem Bauch meiner Mutter zu schlüpfen. Die Nabelschnur hatte sich um meine Schulter gewickelt, schlussendlich brauchte es auch den Einsatz einer Zange.
Ich erinnere mich nicht, ob ich bei diesem Vorgang leise war!

Mich fasziniert, wie “Boléro” stetig wächst, an Lautstärke, Spannung und Kraft gewinnt.
Diesen Effekt schuf Ravel, indem er nach und nach mehr Instrumente einfliessen und mitwirken liess.

Unbewusst folgte ich längere Zeit dem pädagogischen Grundsatz “das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht”.
Mit zunehmendem Alter nahm mein Dasein mehr und mehr Tempo auf. Der Bekannten- und Freundeskreis vergrösserte sich. Die Gründung einer eigenen Familie, Arbeit und Freizeittätigkeiten forderten mich heraus und bereicherten mich.

Genial ist das Finale von “Boléro”, wenn die Instrumente miteinander lautstark um Vortritt zu buhlen scheinen und Paukenschläge ihnen allen ein abruptes Ende setzen!

Nach 12 Minuten beende ich den Aufenthalt in der Birs.

8. August 2021

2 Kommentare

Leave a Reply to Cécile Huber Abbrechen

  • Lieber Markus,
    Vielen Dank für Deine Zeilen, die ich immer mit grosser Spannung lese und mich an Deinet Formulierungskunst erfreue.
    Was macht ein Leben reich. Ja das ist eine gute Frage. Ich denke sehr viele Dinge wenn man dafür geöffnet ist.
    Heute war ich mit Raphael im Davoser Bergwald. Mein Herz wird warm wenn ich dann so kreuz und quer die blumigen Bergwiesen hunauf krapple, der einzigartige Duft mir um die Nase säuselt und dann vielleicht noch ein paar Pilzen begegne. Was gibt es Schöneres?
    Den Boléro liebe ich auch, sind die Wiederholungen nicht Ansätze des sich entwickeln, immer wieder ein Versuch es besser zu machen.?
    Mit lieben Grüssen und nachträglich herzliche Gratulation zu Geburtstag.
    Herzlich Cécile