Reissproben am vergangenen Donnerstag

R

Die Frühlingssonne reisst die Wolken auseinander, meldet sich kurz aus ihren langen Ferien zurück.
Ich radle die Zürcherstrasse hoch und nehme auf der Kreuzung Hektik und Nervosität wahr. Polizei- und Sanitätswagen blockieren die Fahrstreifen.
Eine zerrissene, braune Tasche liegt neben ihrer Besitzerin auf der Strasse. Einsatzkräfte knien neben ihr und einem zerbeulten Smart.
Mir stockt der Atem.

Der Donnerstagmorgen gehört traditionellerweise meinem Freund, mir und unserem Tischtennisspiel auf einem Kinderspielplatz.
Heute habe er er eine Scheibe vor den Augen, meint mein Kompagnon und Gegner, bevor er mir die Bälle um die Ohren schmettert, mir wenige Erfolgserlebnisse gönnt.
Ein Anderer an meiner Stelle würde eventuell Reissaus nehmen.

Ein ca. dreijähriges Mädchen spielt, während wir uns stärken, herzzerreissend die beleidigte Diva.
Ich bewundere ihre kräftigen Lungen und die stoische Ruhe ihrer Mutter

Der Nachmittag gehört dem Besuch einer Messe in der Dorfkirche Riehen.
Ich geniesse zusammen mit meiner Mutter das Sein in diesem uralten Gebäude. Die Holzdecke ist dekoriert mit unzähligen Sternen, strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Draussen reisst der Verkehrsstrom nicht ab.
Die Orgel- und Flötenmusik sind dem Gesang der Nachtigall und der Lerche gewidmet.

Der Abend gehört dem kollegialen Korbballspiel mit meinen Kollegen auf der Schützenmatte, dem geselligen Auftanken danach.
Unerwartet und plötzlich kommt es anders. Zwischen Riehen und Basel reisst dem Keilriemen meines Fahrrads der Geduldsfaden, leer und widerstandslos drehen die Pedale durch.
Gezwungenermassen ziehe ich die Reissleine, packe den Keilriemen auf den Gepäckträger, nehme mein havariertes Zweirad an den Griff und stosse es langsam nach Hause.

Innerlich zerreisst es den zwölfjährigen Isaac schier.
Er lebt in einer ultraorthodoxen jüdischen Familie. Traditionen und strenge religiöse Normen bestimmen seine Tagesabläufe.
Ihn dürstet es nach nicht religiöser Literatur. Sein Verlangen stillt er im Verborgenen. Lesend erweitert er seinen Horizont, distanziert sich zunehmend von seinem Vater.
Bunt, interessant, aufschlussreich sind die einzelnen Artikel von “Mein Vater, der Rabbi”.
Dank Isaac Bashevis Singer, er erhielt 1978 den Nobelpreis für Literatur, tauche ich in mir unbekannte Glaubensvorstellungen und Riten ein, erweitere ich meinen Horizont, fühle ich mit dem jungen Isaac mit.

Ich mag diesen reichen Tag.

9. Mai 2023


1 Kommentar

Leave a Reply to Beat Gurzeler Abbrechen

  • Lieber Markus
    Einen echt reichen Tag hast du beschrieben.
    Das Tischtennisspiel betreiben Susan und ich auch sehr gerne, aber sehr locker,
    E-Bike-Fahrten lieben wir auch.
    Korbball war bei uns an der Uni Bern Bestandteil der Sportlehrerausbildung…

    Danke, du hast mich gerade zum Sinnieren angeregt.

    Wünsche dir einen reichen Abend.
    Lieben Gruss
    Beat