Frau bewegt

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Vertrauensvoll sinke ich vor ihr auf die Knie. Sanft bringt sie mich ans Limit, lässt mich Höhen und Tiefen erleben, weckt unterschiedliche Emotionen in mir, stellt mich auf die Zerreissprobe.

Unter dem riesigen hundertjährigen Baum lässt unsere Yogalehrerin mich Posen einnehmen, welche wirksam sind und mir schwer fallen.

Tröstlich lässt der Herbstwind erschöpfte Pappelblätter auf mein Haupt fallen.
Eine farbige Raupe klettert auf meinen Handrücken und flüstert: “Halte aus, nur noch vier Minuten.”

“Merci” zische ich und überbrücke diese Zeitspanne mit Reflektionen über zwei Frauen, welche Gerhard Jelinek in seinem Buch “Mutiger, klüger, verrückter – Frauen, die Geschichten machten” beschrieb.
Beide nahmen Führungspositionen in sehr unterschiedlichen Organisationen wahr.

Ich denke an Ching Shih. Die sechzehnjährige Chinesin wird 1793 aus ihrem Dorf entführt und gezwungen in einem Bordell in der chinesischen Küstenstadt Kanton ihre Dienste anzubieten.
Der Piratenkapitän Zheng Yi verfällt ihren Reizen, kauft sie frei, heiratet sie und nimmt sie als Hauptfrau in seinen Harem auf.

Auf dem Höhepunkt seiner Macht kommandiert er mindestens 40’000 Piraten im Südchinesischen Meer.
Er zeugt mit seiner Hauptfrau zwei Söhne und fällt vor Vietnam aus unbekannten Gründen in einem Sturm vom Schiff.

Seine Witwe schliesst mit ihrem adoptierten Stiefsohn schnell einen Bund für das Geschäft und für das Leben.
Zusammen übernehmen sie das Kommando über die Piratenarmada.

Sie strukturiert das Leben der raubenden Seeleute neu, indem sie neun Gebote erlässt und diese auch rigoros durchsetzen lässt.
So steht beispielsweise auf Ehebruch eines Piraten neu die Todesstrafe. Diese wird auch durchgesetzt, wenn bei Plünderungen Frauen oder Kinder getötet werden.
Zudem gründet sie einen Fonds, um versehrten Piraten finanzielle Unterstützung bieten zu können.

Ching Shih hält die Männer streng unter Kontrolle und fördert aktiv die Frauen. Bis zu einem Drittel der ihr unterstellten Seeleute sollen Frauen gewesen sein.

1810 handelt sie mit dem Kaiser von China ein Abkommen aus, dass sie ihr Kommando abgibt und im Gegenzug straffrei ausgeht. Ihr Lebenspartner wird zum Offizier der chinesischen Marine ernannt und darf hobbymässig weiter ausländische Schiffe entern und ausrauben.
In Kanton eröffnet Ching Shih ein Spielcasino und stirbt mit siebzig Jahren friedlich und gewaltfrei.

Beeindruckt bin ich von der elfjährigen Mathilde, welche im Jahr 966 die Leitung des bedeutenden Damenstifts Quedlinburg im heutigen deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt übernahm.
Ihr Vater, Otto der Grosse, herrschte damals als Kaiser über das römisch-deutsche Reich.

Unter ihrer Leitung entwickelt sich Quedlinburg zu einem enorm wichtigen Zentrum des Reiches.
33 Jahre lang leitet sie scheinbar souverän die Geschicke des gleichnamigen Stifts.

Ab 997 wirkt Mathilde zudem als offizielle Stellvertreterin des Kaisers, welcher vermehrt in Italien Kriegsgeschäften nachgeht.

Wiederholt muss die Klosterfrau Streitigkeiten von adligen Kriegsherren schlichten.
Ihr Verdikt zählt. Mir gefällt das Bild, dass machthungrige Männer sich dem Urteil einer zierlichen Klosterfrau beugen müssen.
Ihre Autorität wird bis zu ihrem Tod nicht in Frage gestellt.

Ein sanfter Glockenklang ist das Signal, eine wesentlich angenehmere Position einzunehmen.
Geschmeidiger als vor 5 Minuten lege ich mich auf den Rücken, schliesse meine Augen und bin dankbar, kundig angeleitet zu werden.

12. Oktober 2021

2 Kommentare

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  • Lieber Markus,
    10 wunderbare, goldene Tage verbrachte ich mit Raphael im Unterengadin. Wir sind jeden Tag zwischen 3 und 5 Stunden gewandert. Raphael hat sich wie ein edler Prinz benommen, ich befand mich in zauberhafter Märchenstimmung.
    Leider hat mein Händy auch Ferien gemacht, so konnte ich Dir auf die beiden wunderbaren Texte nicht antworten und danken. Was ich jetzt nachholen möchte.
    Herzlichen Dank und liebe Grüss
    Cécile

  • Lieber Markus
    Es ist schön, auch in dieser noch immer Männerdominierten Welt von herausragenden Frauen zu lesen.
    Danke dir dafür.

    Und bleib geduldig, Yoga tut dir echt gut – körperlich, seelisch und erwiesenermassen Schriftstellerisch.
    Lieben Gruss
    Beat