Formigas

Formigas, Ameisen, kraxelten an unseren Beinen hoch. Darum werde es bald regnen, orakelte meine Schwägerin vorgestern.
Glücklicherweise traf ihre Prognose zu. A natureza aqui tem muita sede, die Natur hier ist sehr durstig.

Gerne knie ich vor den Ameisenstrassen in Schwiegermutter’s Garten und schaue den Insektenkarawanen zu, welche zielstrebig, emsig und teilweise schwer beladen unterwegs sind.

Keine Freude an einer solchen Karawane hatten meine Schwiegereltern vor vielen Jahren.
Meiner Geliebten, ein Frühchen, wurden wenige Überlebenschancen eingeräumt.
Um sie zu stärken, wurde im Spital ihr Schnuller mit Zucker bereichert, dieser lockte die fleissigen Insekten an, welche sich in der Nase und im Mund des Baby festsetzten.
Meine Partnerin lernte früh zu kämpfen und sich zu behaupten.

Sehr emsig muss die Mehrheit der BrasilianerInnen unterwegs sein, um überleben zu können.
Ein Beispiel für mich ist Marilde, welche nachts sich neben meine Schwiegermutter bettet, morgens ihre Arbeitgeberin bei allen möglichen Verrichtungen unterstützt, nachmittags meine kranke Schwägerin begleitet.
Marilde ist 51, geduldig, unermüdlich, humorvoll, bäckt wunderbares Mais- und Maniokbrot und hat Visionen.
Jeden Real, den sie erübrigen kann, legt sie auf die Seite, um irgendwann die Fahrprüfung absolvieren und eine kleine Bäckerei eröffnen zu können.
Ihre Energie und Motivation beeindrucken mich.
Boa sorte, Marilde. Viel Glück!

Fleissig sind auch die jungen Leute, welche tagsüber im Supermarkt die Regale auffüllen und nachts studieren.
Viele Universitäten bieten die gleichen Vorlesungen morgens, nachmittags und nachts an, um ihren Studierenden die Möglichkeit zu geben, einer bezahlten Arbeit nachzugehen.

Formigas werden in Brasilien auch Schleckmäuler genannt, welche Süssem nicht widerstehen können. Deren gibt es in diesem riesigen Land enorm viele.
Schweizer Milchschokolade mundet im Vergleich zu brasilianischer Schokolade ziemlich neutral.

A vontade de doce, die Lust auf Süsses, fordert ihren Tribut. Diabetes ist, beispielsweise auch im Familien- und Bekanntenkreis meiner Frau, allgegenwärtig.
Scheinbar steht Brasilien auf Platz 5 der Staaten mit dem höchsten Durchschnitt an Diabetes-Erkrankten.

Mir fällt auf, dass mir bekannte Personen, welche von der Zuckerkrankeit betroffen sind, hauptsächlich auf die Wirkung von Pharmaprodukten bauen, eine Umstellung der Ernährungsweise und des Lebensstils aber nicht in Betracht ziehen.

Zudem gewann ich auf meinen bisherigen Reisen in Brasilien den Eindruck, dass viele brasileiras e brasileiros in ihrer Freizeit sich zurückhaltend und sparsam bewegen.
Macht die Hitze, o calor, träge?
Não sei, ich weiss es nicht.

Ein wenig anders sieht es in den Städten am Meer aus. Dort walken und joggen Karawanen von Frauen und Männern bei jeder Tages- und Nachtzeit der Strandpromenade und dem Meeresstrand entlang.
Die Fitnessgeräte am Strand werden rege benützt.

No Brasil wird im Allgemeinen enorm viel Wert auf einen gepflegten und schönen Körper gelegt.
Knusprig gebräunt und durchtrainiert zelebrieren sich muitas brasileiras e muitos brasileiros im Internet.
Mark Zuckerberberg äusserte vor Kurzem seine Freude darüber, dass BrasilianerInnen die sozialen Medien seines Mediums weltweit am stärksten nutzten.

Wer nicht mit seinem Äussern zufrieden ist, Geld hat und auf einen schnelleren Effekt spekuliert, behilft sich mit Botox, Bauchdeckenstraffung, Liposuktion (Fettabsaugung), Silikonimplantaten.
Viele Zahnärzte sind auf Botoxbehandlungen im Gesicht spezialisiert.
Brasilien ist zusammen mit den USA das Mekka für plastische Chirurgie.

Brasil, pais das pequenas e das grandes formigas e dos contrastes enormes!
Brasilien, Land der kleinen und grossen Ameisen und der riesigen Gegensätze.

Joaçaba, 15. März 2022