Stroh und so

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Mein Grossvater mütterlicherseits hiess Gottlieb Junior und wurde 1904 in Fahrwangen im Kanton Aargau geboren. Dieser Ort ist bekannt für den “Meitlisonntag” im Januar. Dieser erinnert an die tatkräftige Unterstützung der Frauen im 2. Villmergerkrieg 1712.
An diesem Tag hat die Damenwelt traditionell das Zepter in der Hand.
Meine Mutter erinnert sich beispielsweise an Frauen, welche mit Scheren auf der Jagd nach Männerkrawatten waren.

Die Eltern meines Grossvaters, Gottlieb Senior und Elise, arbeiteten beide in der Strohindustrie. Im Gegensatz zu ihren Ahnen, welche in Heimarbeit getrockneten Sommerroggen und Sommerweizen bearbeiteten, arbeiteten meine Urgrossmutter und mein Urgrossvater in der Fabrik.

Zentrum der Strohindustrie im Aargau war Wohlen, auch “Klein Paris” genannt.
1900 produzierten in Wohlen 31 Fabriken Hüte, Taschen, Schuhe, Dekorationen aus Stroh, gefärbt und verfeinert mit Rosshaar, Hanf, Bast, Seide, später auch mit Cellophan und Viskose.
Exportiert wurde in die ganze Welt.
Einzelne Wohler Fabrikanten betrieben Niederlassungen in Paris, London und New York.

Das Aufkommen billigerer Produkte aus Asien und die Weltwirtschaftskrise vor ca. 90 Jahren leiteten den Niedergang der Strohindustrie in der Schweiz ein.

Auf einem Foto, es entstand vor ca. 100 Jahren, steht mein Urgrossvater vor seinem kleinen Haus. Ein riesiger buschiger Schnauz verleiht seinem Gesicht eine gewisse Strenge.
Sein Stolz waren seine Berner Rosenäpfel-Bäume, Kinder mochte er hingegen nicht.

Sein Schwiegersohn Max, er betrieb eine Garage in einem Nachbardorf, zog ihn mit einem Vertrag über den Tisch.
Nach dem Tod von Gottlieb Senior und Elise gehörten deren Haus und die Apfelbäume Max und seiner Frau Lisa. Gottlieb Junior und seine Schwester Lina gingen leer aus, fielen aus allen Wolken.

Kurze Zeit später bat Max seinen Schwager Gottlieb Junior als Bürge für ihn einzustehen, es ging um eine Summe von Fr. 50’000.-. Vor 90 Jahren war dies ein beachtlicher Betrag.
Mein Grossvater lehnte ab, worauf Lisa einen Brief schrieb, dass sie fortan nicht mehr die Gotte meiner Mutter sei.
Dieses Beziehungsfeld war fortan für längere Zeit ausgetrocknet und ausgelaugt.

Gewisse Dinge scheinen sich zu wiederholen. Nach dem Tod ihrer Stiefmutter erfuhr meine Mutter, dass das Erbe sich auf wundersame Art und Weise in Luft aufgelöst habe.
Hier blieben die Beziehungshalme geknickt, meine Mutter litt und erkrankte.

Mich freut zu vernehmen, dass eine Mutter und ihr Sohn seit ca. 11 Jahren sich im Kanton Aargau wieder der Herstellung und dem Verkauf von Strohhüten widmen.
Ihre Hutwerkstatt beschäftigt heute über 20 Angestellte und arbeitet zum Teil noch mit Maschinen, welche 1919 das erste Mal zum Einsatz kamen.

Chapeau.

19. April 2021

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