Valladolid

V

Nach der Abfahrt aus Cancún reisten wir im gekühlten Bus über 100 Kilometer einer gigantischen Baustelle entlang.
Unzählige Bauarbeiter, Lastwagen und Baumaschinen sind im Einsatz um eine Eisenbahnstrecke zwischen Valladolid und Cancùn zu errichten.

Valladolid empfing uns hitzig und lautstark. Ich empfand keine Liebe auf den ersten Blick.
Der dichte Verkehr dröhnte, brummte, ratterte. Konzentration erforderte das Schreiten auf den defekten Trottoirs, welche teilweise abrupt enden.

Einige Stunden später begann ich sachte Sympathie für diese quirlige Kleinstadt zu entwickeln. Sicher half das gute Essen in einem Restaurant, empfohlen von einem lieben Freund, mit.

Valladolid lebt, ist in Bewegung. Die Gehsteige sind eng, der Verkaufsstände gibt es sehr viele. Einzelne Verkaufsläden und Restaurants residieren in alten Kolonialhäusern mit riesigen, enorm hohen Räumen.
Andere sind eng, dunkel.
Ein Restaurant wurde um einen Baum herum gebaut, sein mächtiger Stamm ragt durch die Decke.

Frauen und Männer, teilweise vermummt bis zum Scheitel, regeln den Verkehr. Ihre Anweisungen werden strikte befolgt.

Mächtige schwarze Polizeifahrzeuge zeigen regelmässig martialisch Präsenz. Auf der offenen Verladefläche stehen jeweils ein bis zwei bewaffnete Männer.
Ihr Anblick erinnert mich an Abbildungen von Streitwagen in der Antike.
Bisher erlebten wir keinen Polizeieinsatz, keine heulenden Polizeisirenen.

Gerne halten wir uns im Park auf. Vor dem Eindunkeln übertönt das Gekreische der Krähen den Verkehrslärm.
Kurz nach 18 Uhr ist es dunkel. Dann sind Konzerte und Tanzvorstellungen angesagt.
Viele Flanierende essen Maiskolben, bereichert mit Käse, Mayonnaise, Nutella und andere deftige Delikatessen.

Intensiv sind die Eindrücke. 

Der Markt findet in zwei riesigen Hallen statt, jeder Verkaufsstand hat die genau gleiche Verkaufsfläche.
Bei unserem Besuch der Markthallen boten mehr Personen ihre Produkte feil, als Männer und Frauen sie nachsuchten

Hat es etwas mit begrenzten finanziellen Möglichkeiten zu tun? Uns wird wieder sehr klar vor Augen geführt, wie privilegiert unsere materielle Lebenssituation ist.

Beim Anblick der hart arbeitenden Frauen und Männer hier habe ich immer wieder die Bilder des mexikanischen Filmdramas „Roma* vor Augen. Cloe, die Hauptperson, ist arm, verdingt sich als Haushälterin, trägt und erträgt vieles mit Würde, Anstand, ohne Aggression.
Ich habe das Gefühl, Cloe auf unserer Reise immer wieder anzutreffen.

Meine Geliebte und ich sind immer wieder vom sanften, unschuldig wirkenden Lächeln etlicher Personen berührt.

 „Otros paises otros costumbres – andere Länder, andere Sitten“.
Wir suchten Chili-Samen und fanden sie in einer Zoohandlung. Die Apotheken verkaufen auch Coca Cola und Viagra.

Gestern sassen wir vor 8 Uhr auf der Wartebank beim Colectivo-Taxistand. Nach dreissig Minuten gesellte sich ein Paar aus Kanada zu uns.
Colectivo-Taxis  fahren erst los, wenn sie vier Personen an Bord haben. 

Zusammen erkundeten wir die Ausgrabungen der ehemaligen Maya-Stadt Ek Balam.
Besonders beeindruckend erlebten wir den Aufstieg auf die ca. 30 Meter hohe Akropolis, ein gigantisches Gebäude  in der Form einer Pyramide. In alle vier Himmelsrichtungen erstreckt sich das Blätterdach des Urwalds bis zum Horizont.
Ich konnte mich nicht satt sehen an den erhaltenen Schriftzeichen, jedes ein kleines Kunstwerk. 

Nach dem Rundgang spazierten wir zur Cenote Xcanche.
Eine Cenote ist eine Karsthöhle mit einem Wasserbecken.
TouristInnen aus Brasilien, Frankreich, Italien, Kanada, Russland und der Schweiz tummelten sich in diesem mexikanischen Naturbecken.
Die Wassertiefe von 30 Metern ermöglichte das Springen von erhöhten Stellen.

Mich faszinierten die Wurzeln der Bäume am oberen Rand der Karstdecke.
Sie hängen, riesigen Kunstwerken des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti gleichend, 15 Meter tief zum Wasser runter. 

Beim Schreiben dieser Zeilen spüre ich, dass Valladolid mir sehr ans Herz gewachsen ist.

23. Januar 2023

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