DDR und mehr

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An erster Stelle danke ich herzlich allen Personen, welche dem zuweilen umher irrenden Radler- Ehepaar mit Rat und Tat beistanden.
„Man muss sich unterstützen“, meint in Warnermünde Dietrich, ehemaliger Sportlehrer- Dozent, dessen Fakultät kurz nach dem Fall der Mauer geschlossen wurde. Seine Spezialdisziplin war Akrobatik, wobei er als Untermann 5 Kollegen tragen und stützen musste. Der fast achtzigjährige Mann ist beneidenswert fit, „Sport frei“ , lieber Dietrich. Den Tipp von Gerd, vor Wismar die Bundesstrasse zu benützen, „…zwar gefährlich, aber schnell“, befolgt das Paar lieber nicht.

„Über sieben Brücken musst du gehen“ sang 1978 Karat, die damalige ostdeutsche Band. Die Geliebte und ihr Ehegatte zählen die Brücken auf ihrer ca. 800 Kilometer langen Tournee durch das ehemalige Ostdeutschland nicht. Zu überqueren gilt es kleine Flüsse wie die Panke und Wanne, Teile der Ostsee, verschiedene Autostrassen.

Dies auf asphaltierten Strassen, Waldwegen, auf sandigem Untergrund, auf uralten Kopfsteinpflasterstrassen, rissigen Betonplatten.
Prächtige Baumalleen säumen viele Strassen, Tannenzapfenslalom trainieren wir jeden Tag auf den Strassen durch die endlosen Waldgebiete. Kleine Vögel spielen Fangis mit uns, tauchen waghalsig vor unseren Fahrrädern ab, scheinen sich über unsere Schwerfälligkeit lustig zu machen.

Donnerstag, 2. Juli – Samstag, 4. Juli

Müde warten wir in der Tropennacht am Badischen Bahnhof fast 45 Minuten lang auf den Zug nach Hannover. Die Dusche im Zug am folgenden Morgen weckt und erfrischt, geduldig wartet das Ehepaar in Hannover auf den verspäteten Anschlusszug in die deutsche Hauptstadt.

Abends lädt der ältere Sohnemann zu einem fantastischen vietnamesischen Abendessen am Prenzlauer Berg ein.
Frau und Mann erkunden auf ihrem fahrbaren Untersatz in Berlin den Tegelsee und den Berliner Mauerweg von Heiligensee aus. Der ehemaligen Mauer und den damit verbundenen Todesstreifen zu folgen ist bizarr, absurd. In wildem Zickzack führt der Weg durch Wald, Heide, der S-Bahn entlang nach Wedding. Wir verlieren den Überblick über Ost und West, Gut und Böse. Berlin und Umgebung ducken sich unter drückenden 40 Grad. 2 Liter Apfelschorle rinnen vor dem Abendessen schnell durch die durstige Männerkehle.

Niemand kennt den Namen der prächtigen Stephanskirche in Wedding. Bier mit Alkohol verkauft der türkische Ladenbesitzer nicht. Hotel Big Mama verzichtet in unserem Zimmer eine Nacht lang auf elektrische Energie.

Sonntag, 5. Juli

Durch riesige Parkanlagen geht es der Panke entlang durch das Barnim – Naturschutz- gebiet nach Bernau, bald sehen wir ein Reh!
Schafe suchen unter Bäumen Schutz vor der Hitze. In Biesenthal treffen wir auf eine Gruppe Isländer, welche der Insel Usedom zustreben. Ihnen, welche Sommertemperaturen zwischen 15 – 18 Grad gewohnt sind, macht die Wärme zu schaffen.

Herrlich ist es durch lichte, Sommerduft verbreitende, Waldgebiete den brandenburgischen Seen entlang zu radeln.

Am Webellin- und Griemnitzsee gelegen liegt Joachimsthal, wo wir übernachten. Zimmernachbarn sind Tschechen, welche in einem nahen Industriebetrieb arbeiten und pro Tag 8 Liter Flüssigkeit zu sich nehmen müssen.
Ruhig ist es hier. Unvorstellbar, dass 73 junge Männer aus dem kleinen Städtchen Joachimsthal im 1. Weltkrieg ihr Leben liessen!

Montag, 6. Juli

Nach dem Frühstück in der Bäckerei rollen wir weiter durch die enorm grossen Waldgebiete der Schorfheide nach Templin, wo Angela Merkel aufwuchs. Das dortige Strandbad verströmt karibischen Flair.
Wir sind fast alleine, liebliche Seen verbergen sich hinter sanften Hügeln und in kleinen Waldstücken. Herrlich ist es im Adamskostüm ins warme Wasser einzutauchen. Uns öffnen sich wunderbare, scheinbar unberührte Landschaften, traumhaft.

Direkt nach der Ortschaft Himmelpfort gelangt man zur Mahn- und Gedenkstätte des Konzentrationslagers Ravensbrück. Die Fahrt entlang dem Gelände des ehemaligen Todeslagers ist schwer und belastend, ein Albtraum.
In Strasen übernachten wir direkt am Wasser im Hotel zum Löwen. Enorm idyllisch und ruhig ist es hier! Vor 21 Uhr ist „Lichterlöschen“.

Dienstag, 7. Juli

Vor der rüstigen Gruppe ADFC-Radler/innen starten wir unsere heutige Tour. Bereits der erste See lockt Mann erfolgreich an, in der Zwischenzeit holt uns die Radgruppe ein. Ihr Chef ist ein pensionierter Berufsschullehrer, noch mehrere Male kreuzen sich unsere Wege. Der Müritzer Nationalpark ist paradiesisch schön, wir sind begeistert.
Bis Neustrelitz treffen wir etliche Radreisende an. Danach nicht mehr. Die Route in Richtung Neu Brandenburg scheint kein Renner zu sein. Auf und ab, inklusive eines ungewollten Abstechers in ein mystisches von Stechfliegen bewohntes Waldstück, radeln und wandern wir. Oft haben wir das Gefühl, weit ab von der korrekten Route zu sein, niemand scheint hier unterwegs zu sein. Nach einem längeren Aufstieg erreichen wir das Dorf Siehdichum, der Blick auf Felder und Waldstücke ist wirklich sehr frei.
Vor dem Gewitter erreichen wir Neu Brandenburg. Fantastisch grosszügige Parkanlagen säumen den See, Plattenbauten und grosse Autostrassen umzingeln die sehr schmucke Altstadt, in welche man durch vier Tore eintreten kann.

Mittwoch, 8. Juli

Der nächtliche Regen kühlt den Sommer runter. 10 Kilometer lang suchen wir den richtigen Fahrradweg, unterschiedliche Informationen verwirren. Schlussendlich finden wir am Bahnhof nützliche Informationen. Wir decken uns auf Anraten des Hoteliers mit genügend Trink- und Essbarem ein. Er meint, die Fahrt nach Demmin führe durch sehr dünn besiedeltes Gebiet. Ist es möglich, ein noch leereres Deutschland anzutreffen?
Oh ja!
Wir scheinen die einzigen Veloreisenden in diesem Teil Deutschlands zu sein. Sehr wenige Dörfer passieren wir. Allen Ortschaften scheint ein Zentrum zu fehlen, ausser wenn sich eine Kirche oder eine Bushaltestelle im Ort befindet. Die Häuser schmiegen sich wie Kettensteine der Dorfstrasse an. Fabrikationsbetriebe, Werkstätten, Einkaufsläden oder Gaststätten finden sich keine. Wenige Mastbetriebe sind von Weitem riechbar. Fast alle Ortschaften wirken verlassen, entseelt. Kurze Schauer verwandeln die Plattenstrassen in Rutschbahnen, vor Demmin scheinen wir endgültig von der Natur aufgesogen zu sein. Aus dem Nichts heraus erscheint ein guter Geist, um uns den Weg zur Zivilisation näher zu bringen.
Demmin erscheint entschlafen. Viel ist geschlossen, zu unserem Glück hat die Fleischerei Reichelt ein Zimmer frei.

Demmin erlangte sehr traurige Berühmtheit, weil über 1000 Einwohner/innen Selbstmord begingen, als die Rote Armee Ende April 1945 dieses kleine Städtchen zu stürmen im Begriff war! Erst nach dem Fall der Mauer wurde dieses Geschehen historisch aufgearbeitet, die UDSSR war ja eine Schwesternation und Besatzungsmacht.

Heute kehren viele Leute Demmin den Rücken, weil sie für sich keine Chance sehen, Arbeit zu finden und von dieser leben zu können. Eine Frau erzählt uns, dass mit dem Mauerfall der Niedergang eintrat. Einerseits wurden Betriebe von der Roten Armee ab- und in Russland wiederaufgebaut. Andererseits überlebte beispielsweise die lokale Brauerei den Kontakt mit der „Freien Marktwirtschaft“ nicht. Dieses sympathische Städtchen macht einen traurigen Eindruck auf uns.

Donnerstag, 9. Juli

Die Hansestadt Stralsund an der Ostseeküste ist das heutige Tagesziel. Dieses erreichen wir bei kühlen, nassen 13 Grad. Zum Glück wärmt das Kämpfen gegen den Gegenwind unter dem Regenschutz.
Wir fahren durch Triebsess, ein überaus schmuckes, tot wirkendes Städtchen. Viele Häuser stehen leer, wirken abgekämpft, traurig.

In Nehringen überfällt uns heftiger Regenschauer, so haben wir Zeit, das kleine schwedisch geprägte Ortszentrum anzuschauen. Bis 1803 war die schwedische Krone Ton angebend in diesem Teil Deutschlands. Regenschutz an- und abziehen, für Abwechslung ist gesorgt. Seen sehen wir kaum mehr.
Heftiger Wind erschwert das abendliche Flanieren durch die wunderschöne Altstadt Stralsunds, in deren Herz der alte Marktplatz mit dem Respekt heischenden Rathaus und der Nikolai-Kirche liegt. Man zeigt, was man hat. Ganz sicher hat auch hier die BRD sehr viel Geld in die Renovierungsarbeiten investiert.
Wir unterhalten uns in der Pizzeria prächtig mit Harry aus Wien.

Freitag, 10. Juli

Spöttisch lächelnd fragt der Hotelier die Frühstücksrunde, wer heute aufs Fahrrad steigen möchte! Was für eine absurde Frage, denkt Mann! Stunden später, in kleinen Gängen im flachen Gelände kämpfend, ist er ein wenig schlauer. Böiger Gegenwind spielt mit uns, überfällt sehr lautstark am liebsten frontal, zieht und zerrt an der Regenjacke, flaut ab, scheint Kraft zu sammeln für die nächsten Attacken. Möwen arrangieren sich, bleiben in der Luft stehen. Kite-Surfer wähnen sich im Paradies. Der Sturmwind zwingt zwei riesige Passagierschiffe an Stelle von Rostock Kiel anzulaufen, wir bleiben standhaft auf Kurs! Gegen den Abend rollen wir in Zingst auf der Halbinsel Fischland- Darss ein. Dieser Touristenort erinnert Frau an den Europapark und an die Szenerie des Films „Truman Show“. Recht hat sie. Ein Hase begrüsst uns im Hotelgarten!!
Wir gönnen uns eine fürstliche Unterkunft, unsere Velos parkieren wir im Zimmer. Die Sonne geht um 22 Uhr dramatisch unter, Alt und Jung sind am Strand, verfolgen das Eintauchen des gelben Planeten in das Meer.

Samstag, 11. Juli

Über einen von geschätzt 30 Strandübergängen ab an den Strand. Sehr entspannt sitzen Nudisten und Leute im Faserpelz in und vor Strandkörben, bauen Eltern mit Kindern riesige Sandburgen. Mann joggt und taucht in das Nass ein, 16,5 Grad erfrischen.

Eigentlich könnte man sich an der Sonne auch wärmen, so sucht das Paar hinter dem Dünendamm einen Platz, wo der Wind verbannt ist.
Ganz Zingst scheint auf dem Fahrrad unterwegs zu sein. Jedes Land hat seine eigene Strandkultur, interessant. Abends flaniert man zum Hafen dem Sonnenuntergang entgegen. Es ist ruhig und gemütlich hier.

Sonntag, 12. Juli

Morgens reihen wir uns in die Reihe der Radfahrenden ein. In Prerow radeln wir an einem riesigen Campingplatz entlang, bevor wir durch den endlosen Darss-Forst holpern.
Kurze Schauer machen es leicht, den vielen Strandübergängen zu widerstehen. Die Fähre verbindet Hohe Düne mit Warnermünde, zu kurz dauert die Überfahrt. Dank Dietrich, ein unglaublich rüstiger Ex-Sportlehrer, welcher an diesem Tag 79 Jahre alt wurde, finden wir den direkten Weg nach Bad Doberan. Eine sympathische junge Frau, welche ihre ersten Lebensjahre in Santiago de Chile verbrachte, führt uns zum hübschen Hotel Doberaner Hof.

Diese schmucke Kleinstadt machte sich einen Namen, weil sie 1793 Ausgangspunkt des ersten Seebads an der Ostsee war und hier 1823 auch die erste Galopprennbahn Europas gebaut wurde. Die zierliche Molli-Bahn verbindet Bad Doberan und Heiligendamm an der Ostsee, wo 2007 die G8 tagte.

Die ältesten Gebäude sind ein verfallenes Kloster und das prächtige Backsteingotik- Münster. Schön und ruhig ist es hier.

Montag, 13. Juli

Mann will seine Gattin auf kleinen Strassen nach Schwerin führen. Kleine Strassen, welche teilweise ins Nichts führen, finden sich etliche. Nach einer Irrfahrt kräftigen wir uns unter einem Windrad, bevor wir uns auf die Suche nach dem richtigen Weg machen. Langeweile kann so nicht aufkommen. In Klein Sein fragt uns eine Frau, ob wir ihre zwei entlaufenen Schafe gesehen haben. Uns meint sie hoffentlich nicht!!
Auf Grund der momentanen Tagesform entscheidet das Paar nach Wismar zu fahren.
In Neukloster bittet uns ein sehbehinderter Mann um 65 Cents, er möchte Brot kaufen. Der arme Mann schwitzt sehr, die 21 Grad setzen ihm brutal zu.
Gerd, dessen Zahnplombe sich selbständig gemacht hat, nimmt sich sehr viel Zeit, um die beste Route zu erklären! Wieder kämpfen wir uns durch Wald, über Feldwege, durch Schlaglöcher, in denen kleine Frösche zappeln. Ein Jogger empfiehlt in Bülow die Gaststätte zur Kegelbahn. Merci, Sportsfreund, wir geniessen in der günstigsten Unterkunft der ganzen Reise die herzliche Gastfreundschaft. Die vielen Fotos aus DDR- Zeiten verwandeln das Restaurant für den Mann in ein historisches Museum. Die Sportgruppe „Traktor Lübow“ half 1972 beim Aufbau der Kegelbahn tatkräftig mit, nach dem Motto „gemeinsam miteinander“. 1200 Arbeitsstunden leisten die beiden Vorzeigearbeiter.

Dienstag, 14. Juli

Morgens erkunden wir die fantastische Altstadt von Wismar. Auch hier dominiert die gotische Nikolaikirche, das Mittelschiff streckt sich unglaublich in die Höhe.
Bei der Schweinsbrücke stärken wir uns mit einer Suppe, bevor wir die 45 Kilometer nach Schwerin unter die Räder nehmen. Auf Umwegen gelangen wir nach Bad Kleinen. Von dort aus geht es alles geradeaus. In Wickendorf passieren wir den Begräbniswald. Nach dem Ortsschild Schwerin pedalen wir 6 Kilometer, bis wir zur Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns gelangen!

Spontan beschliessen wir, am Mittwoch nach Hause zu reisen. Unser Bauchgefühl sagt: „Sackstark, so ist es gut. Die vielen Impressionen, Bilder erfüllen uns. Es ist Zeit.“
Nach dem Kauf der Bahnbillette suchen wir ein Hotelzimmer und flanieren durch Schwerin. Das Schloss Schwerin wirkt kitschig schön.

Um 21 Uhr klappt die Altstadt die Rolläden runter, Zeit ins Bett zu gehen!

Mittwoch, 15. Juli

Nochmals radeln wir zum Schloss, geniessen die wunderbare Aussicht über den See. Um 11:22 Uhr laden wir unsere Fahrräder in die Deutsche Bahn, kurz vor 19 Uhr steigen wir in Karlsruhe aus. Die vegetarischen Maultaschen im Restaurant vis-à-vis dem Bahnhof munden. Der Anschlusszug nach Basel, der Kreis schliesst sich, hat 45 Minuten Verspätung.

Wir sind müde und sehr dankbar für die geniale Ferientage im Osten Deutschlands.

25. Juli 2015

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