Prunus

P

Zusammen sind wir in die Jahre gekommen. Er hat Äste verloren, Moos ziert seine Rinde.
Meine Lachfalten erhielten Gesellschaft, reife Flecken schmücken mich.

Vor 25 Jahren, als wir den ersten Kontakt knüpften, standen er und ich in der Blüte unseres Lebens, beide stämmig und stark, so habe ich es zumindest in Erinnerung!
Beide standen wir unseren Mann, er stoisch ruhend in unserem Garten, ich unterwegs in meinem Alltag.

Seine Geduld und Gastfreundschaft waren und sind unermesslich, er war der Klettergarten unserer Jungs und unseres Haustigers, sicherte unsere Hängematten, spendete uns Schatten, war zuverlässige Halte-und Tankstelle vieler Vögel, reiche Energiequelle von Würmern und Insekten, färbte den grauen November und den Rasen mit seinen Blättern, spendete grosszügig Nährstoff.

Genügsam war und ist unser Kirschbaum, wir liessen die Natur walten, verzichteten auf die Zufuhr von Vitaminen und biologischen Spritzen.
Einmal wurden seine Äste gestutzt. Mich befremdete das grobe Vorgehen der zwei Arbeiter.
Entschuldige bitte, das kommt nicht mehr vor.

Aufreizend langsam entkleidet er sich jetzt wieder, scheint Väterchen Frost lächelnd die kalte Krone zu zeigen. In ein paar Tagen kann ich die Blätter zählen, welche sich nicht von ihm lösen wollten.
Antizyklisch wirkt seine Garderobe auf den ersten Blick.

2022 wird er, so hoffe ich, seinen 68. Frühling feiern.
Ist der Lenz für ihn arbeitsintensive Routine oder wie für mich ein fröhliches Fest der Sinne?

Oft schenkte er uns pralle und süsse Früchte, in den letzten Jahren wurden sie säuerlicher.
Nimmt er mich auch so wahr?

Im Gegensatz zu mir erhält unser Kirschbaum keine AHV.
Ob er dazu eine Meinung hat, weiss ich nicht.

26. Oktober 2021

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