Zu Besuch bei der Bienenkönigin

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Ca. 8000 Kilometer entfernt von unserem kleinen Haus wohnt meine Schwiegermutter Judith auf einem grossen Grundstück im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina.
Sie ist 91 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl, verliert langsam ihr Augenlicht und besitzt einen unbändigen Willen zu leben.

Im Herbst 2020 verbringen meine Geliebte und ich acht Wochen bei Judith. Frau engagiert neue Arbeitskräfte, festigt Arbeitsabläufe, erledigt Einkäufe, begleitet ihre Mutter zum Arzt, ist präsent.
Mann bereitet vor 6 Uhr morgens das Frühstück zu, stürzt sich danach ins Bassin. Gegen 9 Uhr schwitzen Judith und er bei der gemeinsamen Gymnastik in der schattigen Einfahrt der Garage.

Das Haus von Judith gleicht einem Bienenhaus. Fleissige Arbeitsbienen umsorgen meine kämpferische und zum Stillsitzen gezwungene Schwiegermutter summend tags und nachts.
Zwischendurch, der Gast aus Europa kommt nicht mit, wird die Atmosphäre stachelig, verwandeln Bienen sich kurz in Wespen.

Elma, 24, alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen, kocht, wäscht und putzt.
Nella, 67, marschiert jeden Morgen vier Kilometer, um sich tagsüber um die Bienenkönigin zu kümmern.
Anna, 38 und Mutter von vier Kindern, schläft sechsmal in der Woche neben Judith, welche etliche Male nachts Wasser lassen muss. Morgens verlässt Anna das Bienenhaus um bis 17:30 Uhr im Büro zu arbeiten.
Am Samstag und Sonntag betreut Milla, 20 und Tochter von Anna, meine Schwiegermutter den Tag hindurch.
Christina ist Physiotherapeutin und trainiert zweimal in der Woche Judith.
Einmal in der Woche kommt eine Krankenschwester um nach dem Befinden der Bienenkönigin zu schauen.

Drohnen, männliche Bienen, gibt es auch.
Guilherme, 40, kümmert sich seit 15 Jahren um das Grundstück der Bienenkönigin. Niemand versteht ihn, wenn er spricht. Ihm fehlen die zwei Schneidezähne. Er verlor sie, als er sein erstes Monatsgehalt vertrank und Opfer eines Raubüberfalls wurde.
Ruben, 70 und Sohn von Julia, wohnt auch im Bienenhaus.

Nektar wird nicht gesammelt, die Pflege im Haus steht im Zentrum. Domino, Bingo und Besuche sind willkommene Abwechslungen.

Spätestens um 21 Uhr werden im Bienenhaus die Waben geschlossen und das Licht gelöscht.

27. Dezember 2020

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