Spettfrau Maria

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Maria Häusle, meine Grossmutter mütterlichseits, wurde 1904 in Eichstätt nahe bei Freiburg im Breisgau geboren.
Leider ergab sich nicht die Gelegenheit, dass sie und ich einander kennenlernten.

Maria und ihre Geschwister, Fritz und Frida, wuchsen in bitterer Armut auf. Ihre Mutter verstarb vierunddreissigjährig.
Der Vater arbeitete als fahrender Müller, er trank und schlug zu Hause zu.

Mit 20 Jahren verliess Maria ihre Heimat um in der Region Baden als Haushaltfrau und später als Spettfrau zu arbeiten, sie putzte und scheuerte.
Frida und ihr Gatte Hugo fanden Arbeit in Zürich.

Niemand weiss, wann und wo meine Grossmutter Gottlieb, er legte stets Wert auf massgeschneiderte Kleidung, kennen und schätzen lernte. Auf den gemeinsamen Fotos hält er sie lächelnd, sie blickt ernst in die Kamera.

Das Paar heiratete 1929. Bei der Familie von meinem Grossvater hielt sich die Begeisterung, dass er eine deutsche Frau ehelichte, in engen Grenzen.

Sein Arbeitgeber, Brown Boveri in Baden, war spezialisiert auf die Produktion und den Export von elektrischen Maschinen und Turbinen.
Die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Börsenkrach 1929 in New York, setzte der Elektrotechnik-Fabrik massiv zu. Sie entliess viele Angestellte, auch Gottlieb.
Er verdingte sich bei der Müllabfuhr und nahm am Sozialprogramm seiner Wohngemeinde teil.
Maria putzte und scheuerte.

1935 bereicherte Dora, meine Mutter, das Eheleben von Maria und Gottlieb, welcher kein zweites Kind wollte, weil er das Gefühl hatte, dass bald Krieg ausbrechen würde.

Mein Grossvater war ein überzeugter Sozialdemokrat und ein erklärter Gegner von Hitler und dessen Partei.
Meine Mutter erinnert sich, dass sie und ihre Mutter im Radio deutsche Nachrichten hörten, während ihr Vater an die abgeschlossene Stubentüre polterte und lautstark Zutritt forderte.
Meine Mutter versteckte sich dann jeweils unter dem Diwan.

Scheinbar warf mein Grossvater bei einem Mittagessen Fleisch, welches seine Gattin beim Metzger Keusch, er war ein stadtbekannter Anhänger vom Führer, gekauft hatte, durch das offene Fenster in den Garten.

Hilfreich war sicher auch nicht, dass ihr Schwager Hugo wegen seiner radikalen und offen zur Schau gestellten Verehrung der faschistischen Ideale mit seiner ganzen Familie aus der Schweiz ausgewiesen wurde.
Die Alpenrepublik verhängte ein lebenslanges Einreiseverbot gegen ihn.
Aus dem erzwungenen Exil schrieb er meinen Grosseltern erfolglos Lockbriefe, damit sie ihm in das Land folgten, wo Milch und Honig flössen.

Scheinbar hatte meine Grossmutter Panik, wenn es blitzte und donnerte. Dann schloss sie sich in einen Kasten ein, vor welchem Dora wartete, bis ihre Mutter diesen wieder verliess.

Maria und Dora assen in Baden gemeinsam ihre erste Banane, Maria wollte die exotische Frucht mit der Schale verzehren.

Mit acht Jahren wurde meine Mutter Halbwaise.
Im Februar 1943 wurde Maria im Spital der entzündete Blinddarm entfernt. Die erste Lungenembolie überlebte sie, die zweite eine Woche danach nicht.
Da alle Krankenschwestern, sie waren auch Ordensschwestern, zu dem Zeitpunkt an einem Gottesdienst teilnahmen, konnte niemand ihr beistehen.

Bei der Beerdigung von Maria wurde Dora von Verwandten aufgefordert von nun an selber für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen.
Wesentlich leichter gesagt als getan!

Ich bin sehr dankbar, dass meine Mutter 4 Lungenembolien überlebt hat und ich von ihr Informationen über eine mir unbekannte Welt erhalte, welche sehr viel mit mir zu tun hat.

28. April 2021

1 Kommentar

Leave a Reply to Katja Abbrechen

  • Sehr eindrücklich lieber Kussi. Danke für diesen sehr persönlichen Einblick in deine Familiengeschichte.
    Auch ich habe mit meinen Recherchen begonnen.
    Herzliche Grüße, Katja