Bewegend

B

Beim Überqueren des Rheins halte ich inne.
Im Wasser treibt ein toter Schwan, sein bis vor kurzem majestätisch erhobener Hals hängt wie ein gefüllter Schlauch im Wasser.
2 Schwäne umkreisen ihn beständig, stupsen ihn mit ihren Schnäbeln an.
Wollen sie ihn aufwecken? Trauern sie? Nehmen sie Abschied?

Dieser Anblick bewegt mich, stimmt mich traurig.
Schwerfällig komme ich in die Gänge. Um auf andere Gedanken zu kommen, rufe ich einige eindrückliche und positive Erlebnisse der letzten Woche in Erinnerung.

Am Vorabend lernten wir am Geburtstagsfest eines Freundes Cécile und ihren Sohn Raphael kennen.
Raphael ist ca. 40 Jahre alt, sehr gut gekleidet und hat eine schwere autistische Behinderung. Er sitzt mit uns zusammen, spricht nicht und scheint in seiner eigenen Welt zu leben.
Ich mag sein Lächeln und die spürbare Verbundenheit und Vertrautheit zwischen ihm und seiner Mutter.

Cécile und ich sprechen über die Magie der Empathie und über ihr Buch “Raphael lernt leben”.
In diesem beschreibt sie die Entwicklung ihres Sohnes bis zu seinem 20. Altersjahr und über ihr Engagement, ihm ein glückliches Leben zu ermöglichen.
Bereits die ersten Seiten der Lektüre fesseln mich.

Beeindruckt hat mich auch die Kurzbiographie einer anderen Frau. Sie war vierfache Mutter und schlussendlich Professorin an der Medizinischen Fakultät der Universität Basel. Als ich über ihr Wirken las, stellte ich mir die Frage, wie sie Familie und ihren sehr anspruchsvollen Beruf meistern konnte.
Einer ihrer Söhne, er ist mein Freund, sagte mir, dass seine Mutter sich stets viel längere Tage gewünscht hatte.

Lese ich ihre Zeilen, sehe ich eine Frau vor mir, welche mit grenzenloser Energie, Leidenschaft, Neugier und Interesse ihren Berufungen folgte.

1993 wurde sie wegen Erreichen der Altersgrenze aus dem Staatsdienst entlassen. Für Frauen galt damals das Pensionsalter 62.
Sie fühlte sich nicht reif für die Insel und rekurrierte beim Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt wegen Verfassungswidrigkeit, nämlich Verstoss gegen den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung.
Sie wollte gleich lange wie Männer arbeiten dürfen.

Ihr Rekurs wurde gutgeheissen.
1994 nahm sie ihre Arbeit im Genetischen Labor des Kinderspitals wieder auf. Alle Versuche des Basler Sanitätsdepartements, dies zu verhindern, schlugen fehl.
Mich freut, dass ihr überzeugtes und kämpferisches Verhalten sich auszahlte.

Gerne hörte ich im Austausch mit meiner Mutter die Anekdote, in welcher sie entschieden Frau Müller, meine damalige Primarlehrerin, entgegentrat.
Die Pädagogin wollte mich in eine Kleinklasse versetzen. Meine Mutter insistierte, so dass ich in die Realschule übertreten konnte.
Danach erfolgte der Übertritt ins Gymnasium, das ich erfolgreich abschliessen konnte.

Frau Müller habe ich als strenge, humorlose, fromme Frau in Erinnerung. Sie arbeitete vormals in der Basler Mission und war nicht verheiratet.
Eventuell war sie ein Opfer oder die Frucht des Basler Schulgesetzes, welches Frauen, die an einer Basler Schule unterrichten wollten, bis 1965 ein Heiratsverbot auferlegte.
Lange wusste ich nichts von diesem Basler Zölibat.

Vor einigen Tagen picknickte unsere Familie im Grünen. Meine Geliebte schaffte es mit Liebe und Kreativität einen wunderbaren Anlass zu zaubern. Luftig und leicht war das Sein.

Beschwingter trete ich in die Pedale.

10. Mai 2021

Kommentar schreiben